CORONA, Streich-Quartett Nr. 3

„Contemporary music is an artistic expression that is not interested in just entertainment but rather in the musical language itself“

Harry Crowl, Interview in: Tribuna da imprensa livre (21.07.2021)

Harry Crowls Beitrag zur Shadow-and-Hope-Kantate ist innerhalb einer stringenten Dramaturgie der Musik selbst und der pandemischen Programmatik organisiert. Darüber hinaus nimmt sich der Komponist jede Freiheit die er braucht, um eine Sammlung seiner persönlichen Impressionen und Expressionen in seiner musikalischen Sprache darzulegen. Er hält sich nicht mit strengen Formen des Klassizismus oder der populären Musik auf. Umgekehrt ist ihm aber auch die Zwanghaftigkeit der experimentellen Musik zur Innovation fremd (wenngleich sich bewusst gesetzte Spielerein wie eine Taktwechselfolge, der Fibbonaci-folge entsprechend, finden lassen. Sein musikalischer Idiolekt, die ihm zu eigene -Ausprägung der musikalischen Sprache, steht in der Verantwortung zu kommu-nizieren und zu präsentieren. Darüber hinaus verwendet er eine eigene musikalische Grammatik und Semantik. Die einzelnen Aspekte des Werkes werden die Musik als solche nicht neu erfinden; hört man Corona, so ist das Werk als Ganzes jedoch definitiv neu und ungehört. Und für den Kenner findet sich der Archetyp Crowls Stil. 

Corona steht mit einer prognostizierten Aufführungszeit von 16 Minuten auf der Seite der sperrigen Stücke innerhalb Shadow-And-Hope-Kantate. Es -beginnt mit „Corona-Akkorden“; zu Beginn des Entstehungsprozesses von Shadow and Hope stand eine Tonfolge (fhchaa), welche sich aus dem Wort Corona -ergibt. Crowl schichtet diese (hafc) zu einem Akkord auf. Diese Akkorde sowie das -Coronamotiv tauchen in die Musik eingearbeitet immer wieder auf. Letzte-res wird sogar Ausgangspunkt einer Zwölftonreihe. Das Streichquartett ist dual strukturiert, das heißt, dass es in zwei Großbestandteilen organisiert ist. Der erste ist die Abfolge aus diversen kleineren musikalischen Einheiten, -wobei Streichquartett und zurückhaltend begleitete, auf Textverständnis bedachte Chorpassagen in Homophonie sich abwechseln. Die Sprache ist (brasilia-nisches) Portugiesisch. 

Die Corona-Akkorde schwellen zu Beginn zweimal aus dem pianissimo in das fortissimo eines dissonanteren Staccatoakkords hinein. Thematisch passend klopft auch hier das Schicksal an die Pforte. Mit dem dritten Crescendo aus dem Corona-Akkord heraus beginnt das Werk nun an zu rollen und die seltenen Generalpausen setzen ab sofort dramaturgische Ausrufezeichen, während piano–Passagen anstelle von Pausen die Musik fluide walten lassen. Mit dem ersten Choreinsatz kommen die Worte „es hat keinen Wert/Sinn, Nein!“ zu Tage. Es folgt mittelbar eine Passage im 3/16- Takt. Crowl bezeichnet diese als ein Todes-motiv. Von einer engstirnigen musikhistorischen Perspektive aus kann von -einem Motiv nicht die Rede sein aber dieser Typus/Charakter wiederholt sich häufig aber nie auf eine exakte Weise (wie nichts in diesem Werk). Die Noten-folgen, die Länge, die Akzente, immer ist etwas anders. Wann immer im Zusammenhang von Crowl Beschreibungen wie „organisch“ fallen, versteht man gerade
hier, wieso. Unabhängig, ob man nun von einem Todesmotiv (einfacher, dem Komponisten entsprechend) oder einer Passage mit Todesmotivik (für Terminologen) sprechen möchte, bietet sich dieser Teil als Orientierungshilfe innerhalb des Streichquartetts an. 

Im Verlauf des Stückes wird das Wort Isolamento (Isolation) prominent vom Chor vorgetragen, zuerst homophon, ein zweites Mal zerpflückt. Die tiefen Regis-ter beginnen mit langsamen Noten, die höheren Register beginnen später, tragen die Silben jedoch mit kleineren Notenwerten vor, sodass alle auf der Endsilbe „–to“ gleichzeitig ankommen. 

Im Verlauf des Werkes tauchen Zitate des brasilianischen Präsidenten -Bolsonaro auf: „Lasst die soziale Isolation enden.“, „Kehrt zurück zum normalen Leben, lasst sterben, wer sterben wird.“

(„Que o isolamentosocial acabe“, „a vida volte ao normal – e moram quantos tiveremde morer.“) Die zitierenden Chorpassagen machen das Streichquartett zu einer Art Album, in welches Zeitungsartikel und Zeitungsüberschriften geklebt wurden, eine Zeitkapsel, die mit jeder Aufführung aufgeschlagen wird. Indes verzichtet Crowl auf eigene wertende Textpassagen, seine Meinung steht lange fest. Wer hier dennoch einen Kommentar des Komponisten sucht, dem sei auf die Einrahmung der Zitate mit den 3/16- Todesmotivik-Passagen verwiesen. 

Dem ersten Großabschnitt folgt nun ein zweiter Teilabschnitt: hier wird klar, warum Crowl seinen Beitrag zur Kantate als Streichquartett bezeichnet, denn der Chor pausiert für eine ganze Weile. Statische Haltetöne, Viertelbewegung und Sechzehntel- sowie Zweiunddreißigstelketten verweben sich zu einem Klangbild, dass gleichermaßen Stillstand und rasantes Tempo beinhaltet. Möchte man dies programmatisch verstehen, so lassen sich Isolation, soziale Kälte und gehetzte, sich überschlagende Nachrichten darin erkennen. Instrumentale Abschnitte unterschiedlicher Charakteristika reihen sich aneinander, immer mehr Taktarten wechseln sich ab: 4/4, 3/16, 3/8, 5/8. 

Nach diesem Interludium folgt eine Reihe weiterer Chorpassagen, im musikalischen Duktus wie gehabt, und instrumental unterbrochen. Doch hat ein Wandel stattgefunden: der Text ist nun eine Abrechnung mit der brasilianischen Krisenpolitik. Bedenkt man, dass die geplante Uraufführung im November 2020 -gesetzt war, so versteht und spürt man die Vehemenz der Worte umso mehr. Es heißt unter anderem: „Für alle, die noch nicht verstanden haben…“, „Wir -haben keinen Präsidenten“, Wir haben keine Tests“, Wir haben keine Ressourcen, um Tests durchzuführen“. Die Musik überschlägt sich nicht mehr und liefert mit -Triolen, Quintolen, Polyrhythmen und der brasilianischen Musik entlehnten Synkopen neue rhythmische Gestaltung. 

Mit einer aufsteigenden Streicherfigur, Resignadamente, beginnt der zweite große Sinnabschnitt; keine häufigen und stilistisch abrupten Wechsel mehr, es wird ein Gedicht der brasilianischen Dichterin Laura da Fonseca e Silva rezitiert. Das Gedicht handelt vom Sterben, und bietet einen religiös angehauchten Grundklang, was im Anbetracht des atheistisch-kommunistischen Hintergrund der Dichterin besonders auffällt. „Ich glaube an den Himmel, an das Unendliche, weitaus mehr als an die Erde und das Meer.“ Crowl verweist explizit darauf, dass es eine Trennung in weltlichen „sky“ und metaphysischen „heaven“ im Portugiesischen (und Deutschen) „Himmel“ nicht gibt. Diese Ambivalenz beziehungsweise Uneindeutigkeit verschiebt den thematischen Charakter des Stückes. Es wird nachdenklich, in sich gekehrt, vorangegangene Expressionen weichen der Impression. Die Streicher untermalen dies mit klassischen Drei- und Vierklängen, wenn auch eine funktionstheoretische Bindung fehlt. 

Das Streichquartett Nr. 3 beinhaltet Anklagen und Zeitkapsel-Zitate, aber es ist mehr als eine reine Anklageschrift oder ein verstaubter Museumsflur. Es bietet Lichtblicke und Blicke zurück, ohne dem überstrapazierten Hoffnungsbegriff im Angesicht der Toten zu verfallen. Corona (das Stück, nicht die Krankheit) ist eine Sammlung von Crowl Impressionen und Expressionen zur Pandemie, zu Papier gebracht, um aufgeführt, präsentiert, kommuniziert zu werden. 


Texte

Novo ministro da saúde diz que não vale a pena gastar dinheiro para salvar vidas de idosos

„Que o isolamento social acabe,
a vida volte ao normal e morram
quantos tiverem de morrer”

Bolsonaro – 18.04.2020
 
Para quem
ainda não entendeu.
Não temos presidente!
Não temos ministro da saúde!
Não temos testes!
Não temos reagentes
para fazer testes!
Não temos peças
para construir -respiradores!
Não temos profissionais de saúde
o suficiente!
Bolsas de doutorandos em pesquisa
de saúde foram canceladas!
Fique em casa!
Fique em casa!
Fique em casa! 

CÉU

Acredito no Céu, no Espaço, no Infinito,
Muito mais, muito mais que
na Terra e no Mar.
Bendita fé, bendito amor! Ideal bendito
Com que vou definhando aos poucos, devagar…

Em versos, toco, trago, aspiro, escuto, fito
A grande dor: e então tudo me vem provar
Que o Sol da minha vida –
este clarão aflito!
Antes do meio-dia, é luz crepuscular.
Morte, noite enluarada em
que o Sonho fulgura,
Enquanto o Coração repousa sonolento,
Livre do sangue, o qual, agora,
é luar também…
E assim, que alívio bom,
que sagrada ventura:
Depois de uma existência atroz de esquecimento,
Morrer – ir para o Céu da memória
de Alguém!

Laura da Fonseca e Silva (Brandão)
(1891-1942)

Unser Gesundheitsminister sagt, es lohnt sich nicht, Geld auszugeben, um das Leben der Älter Menschen zu retten
 
„Möge die soziale Isolation enden,
das Leben wieder normal werden und
so viele sterben, wie sterben müssen“
Bolsonaro – 18.04.2020
 
Für diejenigen,
die immer noch nicht verstehen.
Wir haben keinen Präsidenten!
Wir haben keinen Gesundheitsminister!
Wir haben keine Tests!
Wir haben keine Reagenzien,
um Tests durchzuführen!
Wir haben keine Teile,
um Atemschutzmasken zu bauen!
Wir haben nicht genug Angehörige
der Gesundheitsberufe!
Promotionsstipendien in der Gesundheitsforschung wurden abgesagt!
Bleib zuhause!
Bleib zuhause!
Bleib zuhause! 

HIMMEL

Ich glaube an den Himmel,
an den Weltraum, an die Unendlichkeit.
Viel mehr, viel mehr als auf Erde
und Meer.
Gesegneter Glaube, gesegnete Liebe! Ideal gesegnet
Womit ich langsam schmachte, langsam …

In Versen berühre ich, ich bringe,
ich strebe, ich höre zu, ich schaue
Der große Schmerz: und dann
kommt alles, um mich zu beweisen
Möge die Sonne meines Lebens –
dieser bedrückte Glanz!
Vor Mittag ist Dämmerungslicht.
Tod, Mondnacht, wenn der Traum scheint,
Während das Herz schläfrig ruht,
Frei von Blut, das jetzt auch
Mondlicht ist …
Und was für eine gute Erleichterung, was für eine heilige Glückseligkeit:
Nach einer grausamen Existenz der Vergessenheit,
Stirb – geh in den Himmel
aus jemandes Erinnerung!